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Essstörungen:  Zwischen Stigma, Trauma und Corona-Pandemie

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,,Wow! Du hast abgenommen, oder? Du siehst richtig gut aus!’’

 

Was sich für den ein oder anderen wie ein Kompliment anhört, kann für jemanden mit einer Essstörung verletzend sein und Gedanken wie ,,Wenn ich dünn bin, werde ich gemocht und akzeptiert.’’ auslösen. Es bestätigt das Gefühl, dass Selbstwert mit Gewicht zusammenhängt.

Mit diesem Artikel möchten wir Ihnen u.a. einen Einblick geben, wie Aussagen in Bezug auf Körper und  Gewicht von Menschen mit einem gestörten Essverhalten wahrgenommen werden und was die Stigmatisierung von Essstörungen mit den Betroffenen macht.

Viele Angehörige von Betroffenen, die an einer Essstörung leiden, fühlen sich ratlos im Umgang mit diesem Störungsbild und haben Schwierigkeiten die ,,Beweggründe’’ für dieses Verhalten nachzuvollziehen.

 

 

Übersicht:

  • Stigmatisierung von Essstörungen – Sätze, die Menschen mit einer Essstörung nicht hören möchten
  • Was genau ist eine Essstörung?
  • Statistik und Essstörungen in der Pandemie
  • Ursachen von Essstörungen
  • Wie kann eine traumatische Erfahrung zu einer Essstörung führen?
  • Folgen einer Essstörung
  • Wie unterstütze ich jemanden mit auffälligem Essverhalten?
  • Kann man einer Essstörung vorbeugen?
  • Ist eine Essstörung heilbar?

 

 

Was genau ist eine Essstörung?

 

,,Eine Essstörung ist eine ernsthafte Erkrankung, bei der im Mittelpunkt das Thema ,,Essen’’ steht. Es handelt sich nicht nur um ein Ernährungsproblem, sondern um den gestörten Umgang mit Essen und dem Verhältnis zum eigenen Körper. Betroffene schränken ihr Essverhalten übermäßig stark ein, kontrollieren es ausgeprägt oder verlieren völlig die Kontrolle darüber und essen übermäßig viel. Meist hängen Essstörungen mit der Einstellung zum eigenen Körper zusammen (Psychosomatik) und können zu ernsthaften und langfristigen Gesundheitsschäden führen.’’

 

 

Hauptformen von Essstörungen

 

Die sogenannte Esssucht äußert sich in einem zwanghaften Essverhalten, wodurch es zu Übergewicht (Adipositas) kommt.

 

Eine Magersucht (Anorexia Nervosa) zeichnet sich durch absichtlich und selbst herbeigeführten Gewichtsverlust aus. Dieser wird durch Hungern, Kalorienzählen sowie erhöhter körperlicher Aktivität, um den Energieverbrauch zu steigern, herbeigeführt.

 

Bei der Ess-Brech-Sucht (Bulimia Nervosa) haben Betroffene große Angst vor Gewichtszunahmen, deshalb werden Gegenmaßnahmen, wie Erbrechen, exzessiver Sport, Abführmittelgebrauch oder Fasten ergriffen. Dadurch entsteht ein Mangelzustand und es kommt zu Ess-Attacken, sodass erneute Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Meist sind Betroffene ,,normalgewichtig’’.

 

Die Binge-Eating-Störung gehört zu den ,,neueren’’ Formen der Essstörungen. Bei dieser Form nimmt der oder die Betroffene eine ungewöhnlich große Menge an Nahrungsmitteln in kurzer Zeit zu sich, verbunden mit Kontrollverlust über die Nahrungsaufnahme – dies kann zu Adipositas führen. Diese Form ähnelt der Bulimia Nervosa, sie unterscheidet sich dadurch, dass Gegenmaßnahmen, die der Gewichtszunahme entgegenwirken sollen, ausbleiben.

 

 

Stigmatisierung von Essstörungen – Sätze, die Menschen mit einer Essstörung nicht hören möchten

 

,,Nur untergewichtige Menschen sind magersüchtig.’’

,,Du bist doch gar nicht so dünn?’’

,,Schau mal, sie ist dünner als du!’’

 

Ein häufiges Vorurteil besteht darin, dass nur jemand, der untergewichtig ist, unter einer Essstörung leiden kann beziehungsweise es nur die umgangssprachliche ,,Magersucht’’ als Hauptform gibt.
Für eine Person mit einer Essstörung kann der Vergleich mit anderen Menschen und dessen Körpern ein zusätzlicher Antrieb sein weiter abzunehmen, um beispielsweise ihr inneres Leid noch deutlicher nach außen zu tragen.

 

 

,, Essstörungen gehören zu den ,,Frauenkrankheiten’’ ’’

,,Echte Frauen haben Kurven!’’

 

Die Stigmatisierung, dass Essstörungen reine ,,Frauensache’’ sind, führt dazu, dass die Erkrankung von Angehörigen und Ärztinnen / Ärzten sowie anderen Personen gerade bei Männern häufig übersehen oder erst sehr spät bemerkt werden und dadurch auch seltener behandelt werden.
Statistisch betrachtet leiden tatsächlich mehr Frauen als Männer an einer Essstörung. Allerdings lässt sich vermuten, dass die Dunkelziffer von betroffenen Männern viel höher ist, als statistisch erfasst.
Experten raten von einer geschlechterspezifischen Behandlung ab, jedoch gibt es einige Punkte, bei denen die Behandlung auf männliche Betroffene zugeschnitten werden sollte. Beispielsweise sollte zu Beginn der Behandlung darauf geachtet werden, den Betroffenen die Hemmungen und Schamgefühle zu nehmen, die sie oftmals verspüren. Schließlich passt die Erkrankung an einer Essstörung oftmals nicht mit dem Bild von Männlichkeit des Patienten überein.
Beide Geschlechter haben mit Schönheitsidealen zu kämpfen. Frauen wollen meistens schlank sein, während bei Männern eher viele definierte Muskeln mit kaum Fett an erster Stelle stehen. Beide, Frauen als auch Männer, werten ihren eigenen Körper ab, wenn er nicht dem eigenen Schönheitsideal entspricht.

 

 

Statistik und Essstörungen in der Pandemie

 

,,Vor der Corona-Pandemie, im Jahr 2019 wurden in deutschen Krankenhäusern insgesamt 7.274 Fälle von Anorexie und 1.677 Fälle von Bulimie diagnostiziert. Damit ist die Zahl stationär behandelter Anorexie-Fälle – gemeinhin bekannt als Magersucht – in den vergangenen zehn Jahren um rund 30 Prozent gestiegen. Die steigende Zahl stationärer Fälle korrespondiert dabei mit einer gesellschaftlich stark gestiegenen Bedeutung psychischer Erkrankungen insgesamt.’’

 

Während der Pandemie kam es nicht nur zu vermehrten Rückfällen, sondern auch zu vermehrten neuen Diagnosen. Mehr Jugendliche sind mit einer Essstörung ins Krankenhaus gekommen. Laut dem Report der DAK-Gesundheit 2020 sind 60% mehr Mädchen und Jungen aufgrund einer Adipositas (Übergewicht) behandelt worden als im Vorjahr. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit starkem Untergewicht nahm 2020 um 35% zu. Stationär behandelte Essstörungen wie Bulimie und Anorexie nahmen in den Lockdowns deutlich zu – im Jahresvergleich gab es einen Anstieg um 10%.

 

 

Ursachen von Essstörungen

 

Biologische Ursachen:

  • genetische Disposition
  • Einfluss bestimmter Hormone und Neurotransmitter
  • individuelles Normalgewicht ist genetisch bedingt

Individuelle Ursachen:

  • geringes Selbstwertgefühl
  • hoher Perfektionismus
  • hoher Leistungsanspruch
  • hohes Kontrollbedürfnis
  • geringe Konfliktfähigkeit
  • traumatische Erlebnisse
  • Schwierigkeiten bei der Stressbewältigung
  • Fütterstörungen, Essprobleme oder Übergewicht in der Kindheit

Familiäre Ursachen:

  • Essstörung oder andere psychische Erkrankung eines Elternteils
  • Fehlen positiver Vorbilder in Bezug auf Essverhalten oder Figur
  • fehlende Streitkultur
  • Unterdrückung von negativen Gefühlen
  • problematische Ablösungsprozesse, z.B. übermäßige Kontrolle durch die Eltern
  • Übernahme von zu viel Verantwortung durch das Kind (z.B. nach Scheidung)

Soziokulturelle Ursachen:

  • vorherrschendes Schönheitsideal, verbreitet durch die (sozialen) Medien
  • Thematisierung von Essen, Figur, Gewicht und Aussehen unter Gleichaltrigen
  • Vergleich unter Gleichaltrigen, Mobbing oder negative Kommentare

 

Wie kann eine traumatische Erfahrung zu einer Essstörung führen?

 

Fachsprachlich gehört die allgemeine Essstörung recht häufig zur sogenannten Komorbiden Erkrankung. Komorbiditäten sind Begleiterkrankungen, welche im Zusammenhang mit psychischen Grunderkrankungen in Verbindung gesetzt werden können.
Auch im Zusammenhang zu Traumata spielt die Erkrankung der Essstörung eine komorbide Rolle.
Folgendes Zitat beschreibt den Zusammenhang von Essstörung und Trauma sehr passend:

„Ein Stein fällt ins Wasser und das Wasser zieht durch diese Erschütterung immer weitere Kreise“. 

Huber (2003, S. 38)

Menschen, die eine traumatisierende Erfahrung erleben mussten, neigen zu einer unbewussten Flucht. Eine Möglichkeit, die Betroffene für sich nutzen, um diese Erfahrungen bewältigen oder gar verdrängen zu können. Mit dieser Flucht fällt es Betroffenen somit leichter, um mit dem Erlebten besser umgehen zu können.

Doch wie genau sieht diese Unbewusste Flucht aus? Bei Anorexie-Patienten ist es meist der Wille, sich selbst nicht mehr spüren zu wollen oder auch zu können. Sie schützen sich davor, das Erlebte immer wieder hervorrufen zu müssen. Ohnmachtsgefühlen zu entkommen. Unter anderem auch, die Kontrolle die man über das Leben oder um sein Leben verloren hat, über die Anorexie wiederzufinden, durch das Zählen der Kalorien und das Abwiegen seines Essens.

Anders ist es bei der Bulimie, wo es Betroffenen darum geht, die eigenen Gefühle spüren zu wollen und auch das Nervensystem beruhigen zu können. Allgemein wird versucht, Gefühle mit der Kontrolle des eigenen Körpers und des Essverhaltens berechenbarer zu machen oder diese Gefühle zu vermeiden.

Wichtig ist hier, dass nicht jede Essstörung etwas mit einem Trauma zu tun hat. Es gibt unter anderem auch andere Begleiterkrankungen, wie z.B. Zwangsstörungen oder das Borderline- Syndrom.

Geht es unserer Psyche nicht gut, wird unsere Psyche sehr erfinderisch, wenn es darum geht, Bewältigungsstrategien hervorzurufen. Auch wenn diese ebenfalls nicht gesund sind.

 

 

Folgen einer Essstörung

 

Psychosoziale Folgen: 

  • Zunehmende Isolation
  • Unverständnis aus dem Umfeld
  • Kontaktstörungen
  • Selbstverletzendes Verhalten
  • Depressives Verhalten
  • Vergleiche mit anderen
  • Vermeidung von sozialem Event, durch Angst vor unbekannten Kalorien sowie das Gefühl sich ständig kontrollieren zu müssen
  • Scham vor anderen zu Essen
  • Angst vor der Aufforderung mehr zu essen

Körperliche Folgen (Je nach Essstörung):

  • Haarausfall
  • Bei starker Anorexie die Lanugobehaarung („Fell“)
  • Anpassung des Stoffwechsels („Hungerstoffwechsel“)→energiesparender
  • Verlangsamung des Pulses und niedrigerer Blutdruck
  • Kraftlosigkeit
  • Schwächeanfälle bis Ohnmacht
  • Müdigkeit
  • Durchblutungsstörung
  • Geringe Körpertemperatur
  • Ausbleiben der Periode / Verzögerte Pubertät
  • Leistungsabfall

Besonders bei Bulimie mit Erbrechen: 

  • Verätzung der Speiseröhre
  • Karies
  • Reflux (Rückfluss von Magensäure)

Weitere Folgen: 

  • Osteoporose
  • Wassereinlagerungen
  • Muskelkrämpfe
  • Brühige Nägel
  • Herzrhythmusstörungen
  • Nierenschäden
  • Einfluss auf den Magen-Darm-Trakt
  • Entwicklungsstörung
  • Schwächeres Immunsystem
  • Schlafstörung
  • Atemprobleme

 

Wie unterstütze ich jemanden mit auffälligem Essverhalten?

 

Angehörige und andere können Betroffene bei ihrem Heilungsprozess unterstützen!

  • Es ist wichtig den Betroffenen das Gefühl zu geben, dass jemand für sie da ist und sie nicht allein gelassen werden, indem Sie z.B. Angebote zum Reden machen und nachfragen.
  • motivieren Sie den Betroffenen behutsam zu weiterführender Hilfe (zum Besuch einer Beratungsstelle, einer psychotherapeutischen oder ärztlichen Praxis)  und unterstützen Sie ihn bei der Suche nach Informationen.
  • kleine Erfolge wahrnehmen und würdigen und so die Betroffenen auf ihrem Weg stärken.
    positiven Dingen und Erlebnissen bewusst Raum geben, die nichts mit der Essstörung zu tun haben.

Hilfreiche Tipps für Eltern:

  • informieren Sie sich über Essstörungen
  • Suchen Sie das Gespräch mit Ihrem Kind (ohne Vorwürfe zu machen)
  • sprechen Sie Ihr Kind offen auf Ihre Beobachtungen und Sorgen an, machen ihm aber keine Vorwürfe
  • motivieren Sie Ihr Kind zu einer Therapie, die Therapie kann jedoch nur erfolgreich sein, wenn Ihr Kind es selbst auch will
  • seien Sie geduldig, Ihr Kind leidet selbst am meisten
  • Lernen Sie die Erkrankung zu akzeptieren
  • Verzichten Sie auf Kontrolle und Druck
  • hinterfragen Sie kritisch Ihr eigenes Essverhalten und eigene Schönheitsideale (Diäten etc.)
  • wählen Sie bewusst immer wieder andere Gesprächsthemen als Essen oder Gewicht
  • bauen Sie eigene Schuldgefühle ab, z.B. im Gespräch mit einer Beratungsstelle oder in einer eigenen Therapie

 

Kann man einer Essstörung vorbeugen?

 

,,Besonders Eltern fragen sich häufig, was sie präventiv gegen die Entstehung einer Essstörung tun können. Da sich genetische sowie soziokulturelle Faktoren kaum verändern lassen, werden hier Schutzfaktoren vorgestellt, die sich auf der individuellen und familiären Ebene umsetzen lassen und so das Auftreten einer Essstörung bestenfalls verhindern können:”

  • gute Konfliktfähigkeit und positive Streitkultur in der Familie (z.B. jeder darf seine Meinung äußern, auch Ärger und Enttäuschung wird akzeptiert und gelebt)
  • Leben einer Rollenvielfalt (z.B. alle Gefühle dürfen gezeigt und unterschiedliche Interessen ausgelebt werden)
  • positive Vorbilder (z.B. Vorleben eines positiven Körperbildes unabhängig vom Idealkörper, keine Diäten oder häufiges Wiegen in der Familie)
  • tragfähige, belastbare familiäre Beziehungen
  • Fähigkeit propagierte Schönheitsideale und Medien im Allgemeinen kritisch zu hinterfragen
  • gute soziale Integration, Pflegen von Interessen und Hobbys
  • Relativierung von Leistung (Eltern leben vor, dass sie sich nicht vor allem durch Leistung definieren und fordern von ihren Kindern ebenfalls keine Höchstleistungen)
  • gute Esskultur innerhalb der Familie (z.B. gemeinsame Mahlzeiten am Tisch ohne Ablenkung, positive Stimmung beim Essen, ausgewogenes Essverhalten ohne Essensverbote, Integration von Süßigkeiten, kein Zwang zum Aufessen, keine Belohnung oder Bestrafung mit Essen)

 

Ist eine Essstörung heilbar?

 

Für alle Essstörungen gilt: Je früher eine professionelle Beratung und Behandlung beginnt, umso größer sind die Heilungschancen.

Bei der Magersucht können ungefähr 40 Prozent der Patientinnen und Patienten vollständig geheilt werden, bei etwa 25 bis 30 Prozent sind die Erfolge eingeschränkt gut.  Bulimie-Betroffene haben nach 5 Jahren eine Heilungsrate von 50 Prozent, 20 Prozent zeigen keine Besserung.  Für die Binge-Eating-Störung sieht die Prognose am besten aus: Zwei Drittel können ihre Erkrankung erfolgreich überwinden.

 

 

Abschließend..

Wie genau eine Essstörung entsteht, ist so individuell wie wir Menschen auch. Gesellschaftlich und in den sozialen Netzwerken wird schlank und/oder muskulös sein mit einem hohen Selbstwert verbunden, egal ob es uns Gesundheit, Freude und Lebensqualität kostet – denn immerhin sehen wir ,,gut” aus! Wichtig ist es, die Essstörung als den winzigen Teil eines Menschen zu sehen, die sie ist und ihn nicht über diesen kleinen Teil zu definieren. Unabhängig von Gewicht und anderen ,,Schönheitsmerkmalen” bleibt er wertvoll.

 

Quellen: