Ute, 53, arbeitet im Controlling eines großen DAX-Unternehmens. Auf ihrem Schreibtisch stapelt sich die Post, die sie wochenlang nicht öffnet. Tim, 23, ein Student, schiebt eine wichtige Prüfung auf, bis er schließlich von der Uni fliegt. Antje, 40, eine Modedesignerin, ignoriert wiederholt die Rückrufanfragen ihrer Krankenkasse. Viele erleben Prokrastination, auch bekannt als “Aufschieberitis”. Studien zufolge leiden bis zu 20% aller Menschen darunter. Was steckt hinter diesem, mit Schuld und Scham behafteten Symptom? Hat Prokrastination Ursachen in der Kindheit? Dieser Artikel beleuchtet, wie Trauma und Kindheitserfahrungen damit zusammenhängen können. Und zeigt Möglichkeiten, wie Betroffene den Teufelskreis durchbrechen können.
Prokrastination: Das missverstandene Symptom
“Morgen, morgen und nicht heute, sagen alle faulen Leute!” Doch was geht wohl in Menschen vor, die unter Prokrastination leiden und diesen Spruch lesen? Gerade Out-Performer und Perfektionisten, die alles andere als faul sind und in vielen Bereichen ihres Lebens sehr gut funktionieren, leiden häufig unter dem Aufschieben bestimmter Aufgaben.
Fallbeispiele: Ute und Antje
Ute, eine Controllerin, hat nach außen hin alles im Griff und wird im Arbeitsumfeld als verlässlich und kompetent wahrgenommen. Doch privat entgleitet ihr immer wieder die Kontrolle, weil sie zu erledigende Dinge aufschiebt, bis es Probleme gibt. Verzweifelt sagt sie: “Ich verstehe auch nicht, warum ich mir selbst unnötige Probleme produziere. Warum ich es nicht schaffe, meine Post regelmäßig zu öffnen und zu beantworten.” Woher kommt diese Selbstsabotage? Ebenso bemerkt Antje, 40, dass sich ihre Prokrastinationsmuster allmählich auf ihre berufliche Leistungsfähigkeit auswirken. Sie versäumt wichtige Termine, verpasst Möglichkeiten zur Expansion ihres Geschäfts und fällt hinter der Konkurrenz zurück. Ihr innerer Kritiker meldet sich häufig zu Wort: “Warum schaffst du es nicht, dich um deine Angelegenheiten zu kümmern? Du wirkst unprofessionell und unzuverlässig.”
Hilfe für Studenten: Die Prokrastinationsambulanz
Und was ist mit Tim, dem Studenten? Ist er einfach nur faul? Auf jeden Fall ist er mit seinem Problem in bester Gesellschaft. An vielen Unis gibt es mittlerweile Unterstützung für Studierende, die unter ihren Symptomen leiden. Die Prokrastinationsambulanz bietet Hilfe an, um Studienabbrüchen vorzubeugen. An der Uni Münster gibt es einen anonymen Online-Test , der Aufschiebeverhalten erkennen lässt. Der Test bietet eine nützliche Orientierung und kann erste Hinweise auf Kompensationsstrategien wie Suchtverhalten oder exzessives Online-Spielen sowie Anzeichen von Depression oder ADHS geben. Dennoch bleibt er in seiner Tiefe begrenzt. Das Ergebnis des Tests erklärt nicht die möglichen Ursachen durch Trauma, die in Zusammenhang mit Bindungs- oder Entwicklungstraumata stehen könnten.
Symptome der Prokrastination
Aber nochmal von vorne. Fast jeder Mensch schiebt in unterschiedlichem Ausmaß sporadisch Dinge auf. Zur Prokrastination wird das Aufschieben dann, wenn es zum Problem wird, zum Beispiel dadurch, dass Betroffene sich selbst stark abwerten, sich während des Aufschiebens schlecht fühlen, persönliche Ziele nicht erreichen oder sehr wichtige Fristen nicht einhalten können. Weitere Hinweise sind häufige Ablenkbarkeit, Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen, ein ständiges Gefühl von Unzufriedenheit oder Schuldgefühlen sowie ein Mangel an Motivation und Antrieb. Darüber hinaus können auch körperliche Symptome wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder Magenbeschwerden auftreten, die auf eine tieferliegende psychische Belastung durch Prokrastination hinweisen.
Eine ernste Herausforderung
Obwohl Prokrastination als solche nicht als Krankheit gilt, sehen Psychologen und Psychiater darin ein wichtiges Verhaltensmuster, das stark belastet. Es kann bei psychischen Beschwerden wie Depressionen, Angst oder ADHS vorkommen. Andererseits kann ständiges Aufschieben das seelische Wohlbefinden langfristig verschlechtern und sogar zu körperlichen Problemen führen. Man könnte Prokrastination bezeichnen als eine große Schwierigkeit in der Selbststeuerung, der Selbstorganisation und der Selbstregulation. Diese Worte sind verwandt mit vielen Trauma-Folgestörungen. Unbewusste Muster und innere Konflikte können dazu führen, dass selbst erfolgreiche und fleißige Personen wie Ute und Antje bestimmte Aufgaben immer wieder vor sich herschieben, obwohl sie sich dessen bewusst sind. Sie leiden umso mehr darunter, dass ihr Verhalten verwechselt wird mit Faulheit, Unzuverlässigkeit oder einem chaotischen Charakter.
Ursachen in der Kindheit: Frühe Traumata fördern Prokrastination
Ist Prokrastination wirklich Selbstsabotage?
Die Verhaltensweisen, die oft als Selbstsabotage erscheinen, dienen dazu, ungelöste emotionale Probleme oder innere Verletzungen zu umgehen. Sie haben also einen guten Grund. Es sind Kompensationsstrategien, die dabei helfen, unangenehme innere Zustände zu vermeiden und sich vor Emotionen und körperlichen Empfindungen zu schützen. Sie ermöglichen es, vor ungelösten Traumata und ungelöstem Schmerz davonzulaufen und dennoch ein funktionales Leben zu führen. Diese Strategien sind normal und können sogar rettend sein, da sie es uns ermöglichen, trotz innerer Spannungen und Schmerzen weiterzuentwickeln und nach und nach zu heilen. Daher sind Kompensationsstrategien von großer Bedeutung und verdienen Anerkennung.
Prokrastination und das zentrale Nervensystem
Das zentrale Nervensystem (ZNS) spielt eine entscheidende Rolle bei der Steuerung unseres Verhaltens, weil es die primäre Kommunikations- und Kontrollzentrale unseres Körpers darstellt. Es besteht aus dem Gehirn und dem Rückenmark und koordiniert sämtliche körperlichen und geistigen Funktionen. Manche Menschen empfinden Angst, wenn sie vor ihren überfordernden Aufgaben stehen. Oft sind es Personen mit einem chronisch übererregten Nervensystem, die das Gefühl haben, den Herausforderungen nicht gewachsen zu sein. Andere hingegen empfinden die Lebensaufgaben als langweilig und sehen ihr ganzes Dasein als eintönig an. Sie leiden möglicherweise an Untererregungssymptomen, die auf frühe Traumatisierungen und entsprechende Prägungen im eigenen Nervensystem zurückzuführen sein können.
Das zentrale Nervensystem als “Lebensretter”
Menschen, die früh traumatische Erfahrungen gemacht haben und oft die Botschaft erhalten haben, dass sie nicht okay sind oder nichts richtig machen können, tragen häufig tiefgreifende Selbstwertverletzungen in sich. Die Überzeugung, nicht gut genug zu sein, kein lebenswertes Dasein zu führen oder ständig Fehler zu machen, bildet den idealen Nährboden für Prokrastination. Denn beim Handeln und Umsetzen besteht die Gefahr, dass sowohl die Handlung selbst als auch das Ergebnis kritisiert und bewertet werden.
Wenn wir starke Abwertung, Scham oder Verurteilung erlebt haben, ist es äußerst beängstigend, sich dieser Bewertungssituation zu stellen – meist auf einer tief unbewussten Ebene. Diese Angst kann so mächtig sein, dass unser Nervensystem alles daransetzt, um uns davor zu schützen, überhaupt in die Situation zu geraten oder sie zu bewältigen. Unser innerstes Wesen und unser instinktives Nervensystem sind darauf ausgerichtet, unser Leben zu schützen und gefährliche Situationen zu vermeiden.
Falls du selbst von diesen Gedanken betroffen bist, kann es nützlich sein, sich zu fragen:
- Welche Folgen befürchtest du, wenn du Dinge abschließt?
- Hast du Angst vor Bestrafung? Oder vor Beschämung?
- Vielleicht vor dem Gefühl, verlassen oder allein gelassen zu werden?
- Oder gibt es eine andere Angst?
- Oder vielleicht sogar die Angst vor positiven Emotionen und Ergebnissen?
Paradoxe Sicherheit durch vertraute Destruktivität
Die Tatsache, dass Menschen trotz der Zerstörung ihrer Lebensqualität in bekannten, destruktiven Verhaltensmustern Sicherheit finden, ist typisch für Trauma. Was geschieht, wenn das eigene Selbstbild darauf basiert, nicht erfolgreich zu sein, keine guten Ergebnisse zu erzielen, nicht geschätzt oder gesehen zu werden? Wenn die unbewusste Identifikation als Versager oder Ungewollter so festgefahren ist, dass ein Erfolg dieses Bild erschüttern würde und dadurch die Sicherheit im Hier und Jetzt gefährden könnte? Früh geprägte Selbstbilder sind wie die Grundmauern eines Hauses – sie bestimmen die Stabilität und Form des gesamten Bauwerks. Sie sind Teil der Software unseres Betriebssystems Mensch. Diese Identifikation gibt uns Sicherheit, auch wenn sie sich nicht gut anfühlt. Prokrastination kann also auch mit dem Vermeiden positiver Gefühle zusammenhängen. Sie beinhaltet auf der Metaebene eine Form der Selbstsabotage, bei der wir uns selbst um unser eigenes Glück bringen.
“Ich mache, also bin ich.”
Menschen, die in ihrer Kindheit traumatische Erfahrungen machen, entwickeln oft kein Gefühl der Selbstwirksamkeit. Einschneidende Kindheitserlebnisse können dazu führen, dass Betroffene sich extrem machtlos, hilflos und wehrlos fühlen, was wiederum charakteristisch für Trauma ist. In Ohnmacht, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein fehlt ein wesentlicher Aspekt, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen – nämlich die Selbstwirksamkeit.
Selbstwirksamkeit bedeutet, dass unsere Handlungen einen Einfluss auf unser inneres Befinden und unsere äußere Realität haben. Ein gesund ausgeprägtes Gefühl der Selbstwirksamkeit ist entscheidend für ein gesundes Selbstbewusstsein und ein starkes Selbstvertrauen. Viele Menschen, die Trauma als Kind erfahren haben, kennen dieses Konzept nicht. Sie wurden möglicherweise nicht ermutigt, eigenständig Ergebnisse zu erzielen, und haben selten Erfolge erlebt. Stattdessen haben sie innere Anteile entwickelt, die negativen Eindrücken und Erinnerungen von schädigenden Bezugspersonen entsprechen. Statt eigenes Handeln als wirksam zu erleben, erfahren die Betroffenen dann wieder und wieder Selbstabwertung durch innere negative Stimmen. Ein Teufelskreis. Es ist wichtig, diese Muster zu erkennen und zu durchbrechen, um eine positive Veränderung herbeizuführen und eine neue Geschichte zu schreiben.
Wege zur Heilung und Integration
Rom wurde nicht an einem Tag erbaut.
Kehren wir zu Ute, Antje und Tim zurück. Welche Schritte können sie und alle Betroffenen unternehmen, um den Teufelskreis der Prokrastination zu durchbrechen? Wie gelingt es ihnen, unbeschwert und voller Freude durch ihr Leben zu gehen? Wie bereits erwähnt, konzentrieren sich viele Therapieansätze hauptsächlich auf das Verhalten. Das Internet ist überflutet mit Angeboten für Zeit- und Selbstmanagement-Tools. Je nachdem, wie stark sich die Aufschieberitis als Verhaltensmuster verankert hat, ist das nicht ausreichend, besonders im Zusammenhang mit Trauma.
Die Überwindung von Prokrastination benötigt Zeit und Geduld. Je fester und tiefer ein Verhaltensmuster im Unterbewusstsein verankert ist, desto aufwendiger gestaltet sich der Integrations- und Heilungsprozess in der Psychotherapie. Dieser umfasst das bewusste Erkennen und liebevolle Annehmen eigener Verhaltensmuster und innerer Zustände.
Förderung einer wohlwollenden und neugierigen Haltung
Alle Eigenschaften, die Menschen an sich ablehnen, bleiben bestehen und werden oft sogar noch verstärkt. Also lasst uns Aufschieberitis wohlwollend und mit Neugier begegnen. Indem wir uns selbst ermutigen, uns zu beobachten und zu erforschen, können wir den Teufelskreis von Prokrastination und Selbstabwertung durchbrechen. Eine freundliche innere Einstellung ermöglicht es, mit Mitgefühl und Offenheit auf Handlungen und Gedanken zu schauen. Durch diese Selbstreflexion können wir besser verstehen, warum bestimmte Verhaltensmuster auftreten und wie wir sie positiv beeinflussen können. “Ich erkenne an, dass mein Verhalten einen guten Grund hat!” Dieses Bewusstsein markiert für Menschen, die unter Prokrastination leiden, den initialen Schritt hin zu persönlicher Entwicklung und Selbstakzeptanz. Es bietet Raum für persönliches Wachstum und Lernmöglichkeiten.
Nervensystemregulation und Ressourcenstärkung
In vielen Fällen wird der eigene Wille überschätzt, denn 85% unserer Handlungen werden vom tiefen Unterbewusstsein und Nervensystem gesteuert. Die Regulation des Nervensystems spielt eine entscheidende Rolle für ein Gefühl von Sicherheit, insbesondere bei Bindungs- oder Entwicklungstraumata aus der Kindheit. Bevor Ute entspannt ihre Briefe öffnen kann, Antje ihre Mailbox abhört und Tim sich fokussiert seiner Seminararbeit widmen kann, benötigen sie das Gefühl von Sicherheit und Stabilität. Regulierende Übungen wie Achtsamkeit beim Atmen oder Muskelentspannung können dazu beitragen, das Nervensystem zu beruhigen und die Körperwahrnehmung zu stärken. Trauma manifestiert sich häufig im Körper. Daher ist eine orientierte und stabile körperliche Verfassung die Grundlage für psychisches Wohlbefinden. Regulationstechniken helfen traumatisierten Personen, Sicherheit und Stabilität aufzubauen. Das Fundament, bevor es daran geht, im Rahmen einer Psychotherapie oder im Coaching Selbstwirksamkeit zu trainieren.
Stärkung der Selbstwirksamkeit als Therapieansatz
Was Menschen mit Aufschieberitis dringend zur Heilung brauchen, ist der feste Glaube an ihre Fähigkeiten, neue Dinge erfolgreich zu erlernen und positiven Einfluss auszuüben – selbstwirksam zu sein. Selbst wenn diese Fähigkeit in Kindheit und Jugend nicht ausreichend gefördert wurde, können Erwachsene sie nachholen und ihr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten stärken. Coaches, Psychotherapeuten und EMDR-Therapeuten helfen chronisch Prokrastinierenden auf ihrem Weg zu einer stabilen Selbstwirksamkeit. Sie helfen ihnen
- blockierende Glaubenssätze zu erkennen
- traumatischen Erfahrungen zu begegnen
- unverarbeitete emotionale Belastungen aufzulösen
- regulierende Übungen zu trainieren
- optimistischer mit Herausforderungen umzugehen
- kleine Zwischenziele zu erreichen
- Routinen zu etablieren
- ihre Erfolge zu feiern
- Selbstvertrauen zu gewinnen
- und sich großartig zu fühlen!
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass chronische Prokrastination nicht zwangsläufig mit einer Krankheit einhergeht, aber zu gesundheitlichen Problemen führen kann. Menschen, die unter Aufschieberitis leiden, kämpfen oft mit Selbstabwertung und erheblichen Einschränkungen in ihrer Lebensqualität. Häufig wird Prokrastination fälschlicherweise mit einem schwachen Charakter in Verbindung gebracht. Doch vielen ist einfach nicht bewusst, dass frühkindliche Bindungs- und Entwicklungstrauma daran schuld sein können, wenn für Erwachsene der Briefkasten zum Endgegner wird. Eine traumasensible Begleitung, die an den Wurzeln des Symptoms ansetzt, kann daher lebensverändernd sein.
Dein Weg in deine Großartigkeit
Wer unter Prokrastination leidet, braucht aber nicht zwingend eine Traumatherapie oder einen EMDR-Therapeuten. Manchmal kann es schon reichen, sich selbst mit dem eigenen Betriebssystem zu beschäftigen und tief verwurzelte Überzeugungen zu identifizieren. Der beliebte Onlinekurs “Der Weg in deine Großartigkeit” der FreyMuT-Academy begleitet Menschen während 12 Wochen dabei, ihr Leben freundlicher zu gestalten und sich eben großartig zu fühlen.
Er ist für alle, die sich auf den Weg machen, um sich von blockierenden Glaubenssätzen zu befreien und ihre persönlichen Ziele selbstwirksam zu erreichen. Die Teilnehmer:innen lernen souverän mit herausfordernden Emotionen umzugehen und erhalten täglich konkrete Handlungsstrategien und Impulse.
Hier findest du alle Details zum bevorstehenden Kursbeginn im September 2024.
Abschließend sei gesagt: Jeder fünfte Mensch ist in gewisser Weise von Prokrastination betroffen. Viele Betroffene leiden still und zurückgezogen, da sie sich für ihr Verhalten schämen. Dabei könnten durch ein umfassendes Verständnis von Trauma und seinen Auswirkungen deutlich weniger Utes, Antjes und Tims leiden. Unterstütze daher die Verbreitung dieser wichtigen Informationen und teile diesen Artikel mit deiner Familie, Freund:innen und Kolleg:innen. Vielen Dank!