Es gibt keine schwierigen Kinder, nur einen guten Grund
Stell dir vor, du sitzt in einem Ruderboot, an einem stürmischen Tag und du kämpfst mit den Wellen. Du jonglierst mit den Elementen und versuchst, das Boot auf Kurs zu halten. Es ist anstrengend. Als ob das nicht reicht, wirst du plötzlich, ohne Vorwarnung, auch noch von einem anderen Ruderboot gerammt. Der Aufprall ist heftig und du drohst zu kentern. Ärger steigt in dir auf, gefolgt von Wut auf die Person, die ihr Boot nicht im Griff hat. “Können Sie nicht aufpassen?” schreist du in Richtung des anderen Bootes.
Du fühlst dich angegriffen, deine Emotionen kochen über. Aber dann drehst du dich um und bemerkst: Das Ruderboot, das dich gerammt hat, ist leer. Es gibt niemanden darin, niemanden, der dir absichtlich etwas Böses wollte, niemanden, der deine Grenzen missachtet hat.
So kann es sich anfühlen, wenn Lehrkräfte und Schulpersonal auf schwierige Kinder in der Schule treffen. Wir werden von ihren Verhaltensproblemen gerammt, unser emotionaler Zustand wird erschüttert, und wir sind versucht, uns zu verteidigen und uns zu fragen, warum sie nicht “aufpassen” können. Aber, ähnlich wie in der Ruderboot-Metapher, realisieren wir manchmal nicht oder zu spät, dass diese Kinder uns nicht absichtlich ärgern wollen. Dass es um etwas völlig anderes geht.
Wer ist hier eigentlich schwierig?
In diesem Artikel werden wir darüber sprechen, wie wir als Pädagog:innen und Lehrkräfte mit schwierigen Kindern in der Schule umgehen können, ohne uns von Ärger und Frustration überwältigen zu lassen. Denn wenn wir erkennen, dass das “leere Ruderboot” möglicherweise von inneren Stürmen getrieben wird, die nichts mit uns zu tun haben, können wir uns empathisch auf die Bedürfnisse unserer Kinder einstellen. Dann können wir uns aus der Verstrickung in negative Emotionen und Vorurteile lösen.
Wir müssen verinnerlichen, dass schwieriges Verhalten von Kindern für uns schwierig sein mag, nicht aber für das Kind, das es uns zeigt. Denn das Kind hat einen guten Grund, uns mit seinem originellen Verhalten auf ein Problem aufmerksam zu machen. Es hat einen guten Grund. Es geht in diesem Artikel also um die Haltung des guten Grundes. Denn diese Haltung kann alles verändern. Doch was ist eigentlich das Problem?
Kann das denn eigentlich noch wahr sein?
“Tim, kannst du bitte aufhören, Ali anzuzünden? Das wäre sehr freundlich. Gib das Feuerzeug her, danke! Nein, Jona, hier werden keine Mütter flachgelegt. Als ob du das hinkriegen würdest.. Es werden auch KEINE Stühle aus dem Fenster geschmissen, und können wir jetzt bitte endlich mit den Hausaufgaben anfangen!? Aber sagt mal, raucht ihr da hinten..?”
So parodiert eine Grundschullehrerin auf TikTok den Alltag im Klassenzimmer in ihrer Frankfurter Grundschule. Natürlich völlig übertrieben. Oder etwa nicht?
Bestimmt fallen dir, wenn du Lehrkraft bist, auf Anhieb unglaubliche Geschichten aus deinem Alltag ein, stimmt´s? Chaotische Situationen, in denen du dich gefragt hast, ob das eigentlich alles noch wahr sein kann.
Die Realität im Klassenzimmer kann manchmal die wildesten Vorstellungen übertreffen. Als Lehrer stehen wir oft vor Herausforderungen, die weit über den Lehrplan hinausgehen. Wir müssen nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch als Schlichter, Psycholog:innen und manchmal sogar als Detektive agieren. Und inmitten all dieser Aufgaben und Pflichten stoßen wir nicht selten auf sehr besondere Kinder, die unseren Unterricht sprengen. Das kann einem schon mal die Laune und langfristig die Freude am Unterrichten vermiesen. “Kein Bock mehr!” Das hören wir nicht selten.
Dieser 7-Schritte-Plan aus der Praxis hilft dir, gelassener mit herausfordernden Situationen im Unterricht umzugehen und konstruktive Lösungen zu finden. Gute Laune im Klassenzimmer muss kein Zufall sein.
7 Schritte, für den Umgang mit “schwierigen” Kindern im Unterricht
1) Atme!
Es ruft zum drölfzigsten Mal der selbe Schüler lautstark dazwischen. Geht, ohne zu fragen, aufs Klo oder schubst die Sitznachbarin vom Stuhl. In solch stressigen Momenten konzentriert sich die Aufmerksamkeit des Gehirns oft auf die Bedrohung oder den Stressor und wir vergessen regelrecht, zu atmen. Bevor du reagierst, atme. Einatmen, Luft anhalten, ausatmen. Bewusstes Atmen hilft wirklich immer. Dieser Tipp ist so alt wie Methusalem, aber mit Gold nicht aufzuwiegen. Denn während du dich auf zwei tiefe Atemzüge konzentrierst, verlängerst du die Spanne zwischen Reiz und Reaktion. Du gewinnst Zeit, die dir hilft, die folgenden Tipps umzusetzen. Tiefes Atmen hilft, das komplette Nervensystem zu beruhigen und dein Stresslevel zu senken. Übrigens hilft es auch wütenden oder ängstlichen Kindern, sich zu beruhigen, wenn man sie dabei unterstützt, sich auf ihren Atmen zu konzentrieren. Also: Tief Luft holen nicht vergessen, mindestens zwei Mal! Für alle!
Genug Sauerstoff an Bord?
2) Selbstkontakt als Basis für Resilienz:
Wie geht es dir? Bevor du auf einen Angriff, ein Fehlverhalten oder einen Konflikt im Außen reagierst, nimm wahr, wie es in deinem Inneren aussieht. Du fragst dich vielleicht, was die Unterrichtsstörung eines ADHS-Kindes mit deinem Inneren zu tun hat? Nun, wenn du adäquat auf verhaltensoriginelle Schüler:innen reagieren willst, brauchst du Orientierung: Ein Abgleich von dem, was du im Außen siehst und beschreiben kannst, mit dem was du im Innen wahrnimmst, hilft dir dabei orientiert zu agieren. Innen und Außen beeinflussen sich gegenseitig! Wie Kinder dich als Lehrkraft und als Person erleben, hat also immer auch etwas mit deinem Mindset zu tun. Deshalb mach erst einen kurzen aber ganzheitlichen Innen-Check, bevor du reagierst:
- Wie geht es dir körperlich? Verkrampft sich dein Magen? Schnürt es dir die Kehle zu? Dein Herz klopft wie wild? Glühen deine Wangen? Vielleicht ist dir auch schwindelig? Welche körperlichen Symptome geben dir einen Hinweis?
- Geh jetzt zu deinen Emotionen. Wie fühlst du dich? Welches primäre Gefühl zeigt sich jetzt? Bist du wütend? Eher ängstlich? Vielleicht drückst du ein Gefühl weg?
- Dann zu den Gedanken. Wie geht es dir auf mentaler Ebene? Welche Gedanken hast du zu dieser Situation? Was denkst du über dich, aber auch über das Kind, das deine Aufmerksamkeit so intensiv bindet oder dich triggert?
Bist du gut in Kontakt mit dir selbst?
3) Wahrnehmung und Selbstakzeptanz:
Nun geht es darum, das, was du wahrgenommen hast, zu akzeptieren. Echte Veränderung geschieht immer durch Akzeptanz. Es kann sein, dass du verurteilende Gedanken hast, wie “Ich habe die Schnauze voll von dir und deinen Fisimatenten.” oder “Ich bin einfach zu blöd für den Job.” Oder du merkst, dass sämtliche Schutzmechanismen dir helfen, deine Wut zu unterdrücken und du gar nichts spüren kannst. Es kann sein, dass dein autonomes Nervensystem dich in den Freeze-Modus geschickt hat. Es ist, was es ist. Und es ist okay. Du bist okay.
Denn, und das ist der Kern unserer Arbeit in der Freymut Academy: Auch du hast einen guten Grund! Nichts, was du denkst oder fühlst, kann falsch sein.
Warum ist dieser Punkt so immens wichtig?
4) Bindung geht vor Bildung:
Oft suchen belastete Kinder im Klassenzimmer das verlässliche Beziehungsangebot, das ihnen im Elternhaus fehlt. Es kann sein, dass du als Lehrkraft die Person bist, mit der Kinder in echtem Kontakt sein wollen und auch müssen, damit sie dein Lernangebot überhaupt annehmen können. Denn anders als Bildung gehört Bindung zu den emotionalen Grundbedürfnissen. Ohne ein verlässliches Bindungsangebot im Klassenzimmer ist für viele Kinder kein Lernen möglich. Die Frage ist: Wie willst du Zugang zu einem Kind bekommen, ohne in Kontakt mit dir selbst zu sein? Solange du eigene Gefühle und Gedanken übergehst, ist das nicht möglich. Das ist das hüpfende Komma. Gerade die schwierigen, die verhaltensoriginellen, oft sehr sensiblen Kinder sind untrügliche Seismographen und legen ihre Finger in deine Wunde von fehlendem Selbstkontakt und mangelnder Akzeptanz.
Warum gibt es sonst Kinder, die bei deiner Kollegin wie Lämmer sind und dich regelmäßig an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringen? Merke also: Kein Einmaleins ohne Beziehung. Keine Beziehung ohne Selbstkontakt und Akzeptanz.
Und wie war das nochmal mit dem Ruderboot?
5) Die Haltung des guten Grundes:
Du weißt jetzt: In herausfordernden Situationen atmen, wahrnehmen, akzeptieren, Kontakt aufnehmen. Doch damit löst sich das Problem noch nicht in Luft auf. Vor dir sitzt oder steht immer noch ein junger Mensch, dessen Verhalten für dich aufmüpfig, zappelig, regelbrechend…, schlicht nicht nachvollziehbar und inakzeptabel ist. Doch wenn du Punkt eins bis vier beachtet hast, ist der Schüler oder die Schülerin jetzt bestenfalls offen, etwas von dir anzunehmen. Doch was könntest du anbieten?
Tadaa, jetzt ist es endlich soweit und es kommt der Gamechanger zum Einsatz, den wir einleitend angepriesen haben: Die Haltung des guten Grundes! Die Haltung des guten Grundes ist das Bewusstsein in der Ruderboot-Metapher, wenn du feststellst, dass das andere Ruderboot leer ist. Wenn da niemand ist, der mutwillig handelt oder dir etwas Böses will. Da ist einfach ein junger Mensch, der dich mit “schwierigem” Verhalten darauf hinweist, dass er belastet ist und seinen nicht verarbeiteten emotionalen Stress mit Vermeidungs-, Kampf-, oder Fluchtverhalten zum Ausdruck bringt.
Wenn du dem “schwierigen” Kind mit der Haltung des guten Grundes begegnest, erlaubst du ihm, so zu fühlen und handeln, wie es für das Kind eben Sinn macht – ohne darüber zu urteilen. So kannst du es dort abholen, wo es momentan steht, auch wenn die auftretenden Verhaltensweisen für dich nicht verständlich sind. Mit der Haltung des guten Grundes signalisiert du deine Bereitschaft, dich einzufühlen und die Perspektive zu wechseln. Du nimmst den Daumen vom übererregten Nervensystems des Kindes und es darf sich entspannen. In dieser Atmosphäre wird eine ganz neue Gesprächsbereitschaft entstehen und Antwort auf die Fragen “Warum verhältst du dich so?” “Welche Situationen sind besonders schwierig für dich?” und “Was brauchst du, damit du dich anders verhalten kannst?” sind für das Kind möglich.
Für euch beide sollte jetzt gelten: Ich bin okay. Du bist okay. Okay?
6) Rahmen vor Inhalt:
Jetzt kommt es auf den Rahmen an. Nachdem du erfolgreich den Weg vom Ich zum Du gegangen bist und dem “schwierigen” Kind mit der Haltung des guten Grundes begegnet bist, seid ihr bereit für den nächsten Schritt. Ihr sprecht über den Rahmen, das heißt die Regeln, die du für deinen Unterricht festgelegt hast. Die Bedeutung eines guten Rahmens wird oft unterschätzt. Rahmen sticht Inhalt. Was ist damit nun wieder gemeint? Dein pädagogisches Handeln hat die Wissensvermittlung zum Ziel, klar. Zu deinen Aufgaben als Lehrkraft gehört es, Wissen zu vermitteln und den dir anvertrauten Kindern zu helfen, schlauer zu werden. Wenn du mit Leib und Seele Lehrer:in bist, ist es wahrscheinlich genau dieser Punkt an dem du so verwundbar bist, wenn dir verhaltensoriginelle Kinder dazwischen grätschen. Stimmt´s?
Doch stell dir deinen Unterricht wie eine Tasse vor. Und deine Unterrichtsinhalte sind Tee. Wenn der Tassenboden undicht ist, fließt Tee unten aus der Tasse, sobald er oben reingekippt ist. Wir müssen Kindern einen guten Rahmen geben, damit Wissensvermittlung gelingen kann. Was heißt das konkret für deinen pädagogischen Kontext?
Wir empfehlen Lehrkräften, eine unterstützende Lernumgebung zu etablieren. Das kann zum Beispiel die Sandwich-Methode sein, mit der Unterrichtsstunden immer gleich (positiv) mit einem Ritual beginnen und enden. Ein guter Rahmen beinhaltet auch ein Regelwerk für Verhalten im Klassenzimmer und die für Kinder nachvollziehbaren Konsequenzen, wenn Regeln missachtet werden.
Das ist dir nicht neu? Die Konsequenzen sind manchen Kindern einfach egal? Dann hast du vielleicht einen oder mehrere Punkte von oben übersprungen. Denn wenn du echten Kontakt und eine Beziehung zu dem “schwierigen” Kind hast und es spürt, dass du es nicht verurteilst, wird ihm die Konsequenz nicht egal sein.
Ein guter Rahmen und eine sichere, wertschätzende Begleitung schenkt Orientierung und Sicherheit. Übrigens nicht nur den Kindern, die auffallen, sondern allen im Klassenzimmer.
Das soll’s schon gewesen sein?
7) Üben und integrieren!
Circa 6 Minuten sind vergangen, wenn du von Anfang bis hierher gelesen hast. Dieser 7-Schritte-Plan, mit der Haltung des guten Grundes im Kern, hat das Zeug, dass sich dein Klassenzimmer-Alltag von Grund auf zum Besseren wendet. Wir sind überzeugt: er kann dir helfen, mit herausfordernden Situationen und belasteten Kindern leichter umzugehen. Natürlich kannst du im Ernstfall nicht diesen Plan aus der Tasche ziehen und sagen: “Moment, bleib bitte so, ich muss erst lesen, wie das mit dem Selbstkontakt wieder geht.” Deshalb wirst du nicht umhin kommen, das, was du hier gelesen hast, zu üben und in deinen Alltag zu integrieren. Also bleib dran! Wir wünschen dir gutes Gelingen und freuen uns, wenn du uns von deinen Erfahrungen erzählen würdest.
Allen Lehrkräften, denen durch diesen Artikel ein Licht aufgegangen ist und die in der Tiefe verstehen wollen, wie sie kompetent mit verhaltensoriginellen Kindern umgehen, empfehlen wir den Lehrerkurs. Meistens ist es so, dass sich hinter starken Verhaltensauffälligkeiten nicht verarbeiteter, emotionaler Stress und damit ein Trauma verbirgt. Trauma muss nicht unbedingt heißen, dass dem Kind etwas Schwerwiegendes passiert ist. Der Online-Kurs besteht aus einem Theorie- und einem Praxisteil und vermittelt die neuesten Erkenntnisse aus der Traumaforschung. Hier geht es zum Lehrerkurs.