In der vergangenen Woche habe ich auf Instagram einen Sturm ausgelöst. Ein Satz hat gereicht: “80 % der ADHS-Diagnosen sind falsch.”
Ein Satz, der auf zehn Jahren praktischer Erfahrung basiert. Ein Satz, der offenbar getroffen hat. Und ein Satz, der nicht ohne Gegenwind blieb.
Mir wurde entgegnet, das sei wissenschaftlich nicht belegt. Dass es keine haltbare Quelle gebe. Dass meine Qualifikation infrage zu stellen sei, wenn ich solche Aussagen mache.
Ich verstehe den Reflex. Und ich weiß um die Bedeutung wissenschaftlicher Evidenz. Selbstverständlich. Ich bin Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Ich habe viele Jahre im System gearbeitet, an Leitlinien mitgewirkt, Studien gelesen und diskutiert.
Aber ich weiß auch:
Wissenschaft beginnt nicht mit Zahlen. Sie beginnt mit Beobachtung.
Und was ich beobachtet habe, über zehn Jahre hinweg, in unzähligen Familien, mit unzähligen Kindern: Dass ADHS oft vorschnell diagnostiziert wird, ohne die kindliche Biografie, ohne die emotionale Entwicklung, ohne mögliche traumatische Erfahrungen sorgfältig in den Blick zu nehmen.
ADHS oder Trauma?
Es ist bekannt, dass sich ADHS-Symptome mit anderen psychischen Störungen oder Reaktionsweisen überschneiden können. Impulsivität, Konzentrationsstörungen, Hyperaktivität – all das kann Ausdruck von frühkindlichem Stress sein. Ausdruck einer Überforderung des Nervensystems, das keine sichere Ko-Regulation erfahren hat.
Die meisten hier werden die Studie der Studie der RUB und der Universität Basel kennen, der zufolge nur 29 % der Kinder und Jugendlichen mit einer ADHS-Diagnose die Kriterien nach DSM-IV tatsächlich erfüllten.
Die meisten ADHS-Forschungsstudien konzentrieren sich auf die Auswirkungen der Störung nach der Diagnose, wie z.B. Therapieeffekte, soziale Auswirkungen oder neurologische Unterschiede, und weniger auf die Diagnostik an sich. Die Diagnostik, also die Feststellung, ob eine ADHS vorliegt, wird oft als ein Prozess behandelt, der von Fachleuten durchgeführt wird und nicht unbedingt Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung ist.
Was heißt das? Dass wir zu oft Symptome über Pathologien stülpen. Dass wir zu selten fragen: “Was hast du erlebt?” Stattdessen fragen wir: “Was stimmt nicht mit dir?”
Die Wissenschaft kann nicht alles leisten.
Es gibt zu wenig Studien, die Trauma in der ADHS-Diagnostik berücksichtigen. Warum? Weil sie schwer durchzuführen sind. Eltern lassen ihre Kinder ungern fremdbegutachten. Es fehlt an Zeit, an Geld, an Rahmenbedingungen. Viele Variablen lassen sich nicht kontrollieren. Trauma ist komplex, individuell und oft schwer messbar. Aber das bedeutet nicht, dass es nicht real ist.
Wenn die Wissenschaft lückt, müssen wir auf das zurückgreifen, was da ist: Erfahrung, Empirie, klinische Beobachtung. Auch das ist Evidenz! Für meinen umgrenzten Raum ist es deskriptive Epidemiologie in ihrer wohl kleinsten, aber dennoch nicht weniger wichtigen Form – und hier könnten so viel mehr Fachkräfte Daten beisteuern, um Validität und vor allem Reaktion zu erzeugen!
Ich habe mich entschieden, ein System zu verlassen, um es zu verändern.
Von innen heraus ist mir das nicht gelungen. Seit der Gründung der FreyMuT Academy gehe ich neue Wege. Und ja, diese Wege sind manchmal provokant. Ich spitze zu. Ich fordere heraus. Weil ich glaube, dass Wandel nicht durch Konsens entsteht, sondern durch Reibung.
Wenn ich sage, dass 80 % der ADHS-Diagnosen falsch sind, dann meine ich damit: Wir müssen genauer hinschauen. Nicht, dass ADHS nicht existiert. Aber dass es zu oft als einfache (im Sinne von vorschnell – nicht von leicht!) Antwort dient, wo wir eigentlich komplexe Fragen stellen müssten.
Diagnostik braucht Zeit. Und Wissen. Und Haltung.
Viele Diagnosen werden gestellt, weil das System schnell Antworten braucht. Weil Eltern Hilfe wollen. Weil Schulen Papiere brauchen. Und weil Therapeuten, Pädagogen, Betreuer, Coaches nicht immer die traumasensible Ausbildung haben, die es braucht, um Verhalten im Kontext zu verstehen.
Genau das ist meine Mission: Traumawissen in die Mitte der Gesellschaft zu bringen. Und genau dafür bilde ich Menschen aus, die fundiert, zertifiziert, mit Haltung und Herz arbeiten – und dabei bereit sind, über den Tellerrand hinauszublicken.
Wissenschaft lebt vom Diskurs.
Ich freue mich über jede Diskussion, die zu einem neuen Denken beiträgt. Und so sehe ich das, was da auf einem Social Media Kanal passiert ist. Auch wenn ich selbst berührt war und bin. Denn einige Kommentare entbehren einer kommunikativ angemessenen Grundhaltung so sehr, dass es mich persönlich trifft. Das reflektiere ich, ich gehe in die Konfrontation, ich wäge Argumente ab, ich fokussiere mein Ziel. Mancher Austausch ist mir nicht gelungen. Vermutlich erreiche ich manche Menschen auch nicht mit meinem Wunsch der Veränderung und sie werden im System bleiben.
Umso mehr danke ich all jenen, die mir zustimmen, mitdenken, sich anstoßen lassen und mir kritisch spiegeln, ob ich zu weit gegangen bin oder eben gerade weit genug.
Denn genau darum geht es mir: Störungsbilder neu zu denken. Oder wie ich es lieber nenne: Verhalten als Ausdruck eines guten Grundes zu verstehen.
80 % ist mehr als eine Zahl.
Es ist eine Erinnerung daran, dass wir noch nicht genau genug hinschauen. Eine Einladung, Diagnostik neu zu denken. Und ein Aufruf, Theorie und Praxis zusammenzubringen – mutig, irritierend, ehrlich. Es erfüllt den Zweck, denn es geht hier nicht um mich.
Es geht um unsere Kinder. Und um die Zukunft psychischer Gesundheit, die viele Gesichter hat.