Du kennst sie auch, oder?
Du betrittst deinen Klassenraum – und schon in den ersten Minuten passiert alles gleichzeitig:
Ein Schüler versteckt sich unter dem Tisch, eine andere weint still in ihr Heft, wieder andere stören, diskutieren oder flüchten sich in scheinbare Gleichgültigkeit. Du atmest tief durch und denkst dir: „Warum nur versteht mich hier niemand?“
Da sind die „Träumer“ der Klasse, die ihre Emotionen scheinbar nie regulieren können. Oder die, die nie ihre Hausaufgaben machen und permanent stören. Die Streithähne und Kampfmäuse, die sich in jeder Situation behaupten müssen. Die Liste an sogenannten „herausfordernden“ Verhaltensweisen ließe sich endlos fortsetzen. Und die dazugehörige Liste mit Interventionstipps und guten Ratschlägen wahrscheinlich auch.
Doch was steckt wirklich hinter diesen auffälligen – oder viel besser: originellen Verhaltensweisen? Was hat all das mit uns als Lehrkräften zu tun? Und warum fühlen wir uns manchmal so hilflos, wenn kein Tipp und keine Methode funktioniert?
Vielleicht liegt der Grund darin, dass wir nur die Oberfläche betrachten – ohne die Ursache wirklich zu erkennen. Verhaltensweisen entstehen nicht im luftleeren Raum. Sie sind Ausdruck von Überforderung, Stress und tiefer sitzenden Problemen. Und ganz oft sind sie die Folge traumatischer Erfahrungen. Die Wahrheit ist: Verhalten ist Sprache. Und oft die Einzige, die Kinder (noch) sprechen können.
Was würde wohl passieren, wenn wir den Menschen im System Schule – also auch uns selbst – einmal mit einem ganz anderen Blick begegnen würden? Wenn wir eine neue Sprache lernen würden…?
Wann Lernen funktioniert – und was es behindert: Ein Blick ins Gehirnhaus
Lernen ist ein Prozess, der unglaublich komplex ist und auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig abläuft. Das ist kein Geheimnis. Lehrerinnen und Lehrer lernen das in ihrer Ausbildung. Aber im Schulalltag kommt es oft ganz anders: Da stehen wir vor einer Klasse voller junger Menschen und stoßen an Grenzen, die wir nicht verstehen. Methoden, die gestern noch funktioniert haben, versagen heute. Kinder, die gestern noch aufmerksam waren, wirken plötzlich abwesend.
Um zu verstehen, warum das passiert, hilft ein Blick ins „Gehirnhaus“:
Der Lernprozess beginnt mit der Wahrnehmung – die Haustür unseres Gehirnhauses. Der Thalamus nimmt Reize auf und leitet sie weiter. Im Flur angekommen, trifft der Reiz auf die Amygdala – das emotionale Kontrollzentrum und unser internes Alarmsystem. Ist die Situation sicher und der Reiz verarbeitbar, geht es weiter in den „Speicher“ – den Hippocampus, wo das Erlebte geordnet und gespeichert wird. So entstehen Erinnerungen, die sich vollständig anfühlen.
Aber was passiert, wenn der Reiz nicht verarbeitet werden kann? Wenn er bedrohlich wirkt, weil er an ein altes Trauma erinnert oder weil das System sowieso schon überfordert ist?
Dann blockiert die Amygdala den Weg zum Hippocampus und schickt das Erleben direkt in den „Keller“ – das Stammhirn übernimmt. In diesem Moment dominieren Überlebensmechanismen wie Flight, Fight oder Freeze.
Lernen ist in diesem Moment schlicht nicht möglich.
Das hat nichts mit Faulheit oder mangelnder Motivation zu tun – es ist purer Selbstschutz. Das Gehirn schützt sich vor Überforderung und macht schlichtweg dicht.
Dass dann jemand, der nicht die richtige Sprache spricht, nicht mehr durchdringt, ist ja wohl mehr als logisch.
Konzepte des sicheren Lernortes – wie schaffen wir ein Klima der Sicherheit?
Es ist nicht der perfekte Unterrichtsplan, der entscheidet, ob Lernen gelingt. Es ist das Gefühl von Sicherheit und Verbundenheit.
Sichere Lernorte schaffen Raum für Emotionen, Stabilität und Selbstwirksamkeit. Sie setzen genau dort an, wo Schule sonst oft an ihre Grenzen stößt – nämlich bei den unbewussten emotionalen Mustern.
Was macht einen sicheren Lernort aus?
Traumasensible Schulen fragen: Was braucht es, damit das System sich wieder sicher fühlen kann?
Sie antworten: Es braucht Achtsamkeit, Stabilität und emotionale Verbindung.
Konzepte wie „Healing Classrooms“ oder die SchlaU-Werkstatt machen genau das greifbar:
1. Achtsamkeit – das autonome Nervensystem regulieren
Achtsamkeit bedeutet nicht zwangsläufig Meditation oder stille Momente. Es bedeutet, den eigenen Zustand wahrzunehmen und bewusst zu regulieren. Für Lehrkräfte heißt das: sich selbst spüren, bevor man handelt.
Ein einfaches Ritual vor Unterrichtsbeginn – tief einatmen, kurz ankommen – kann die Stimmung im Klassenraum merklich beeinflussen.
2. Stabilität – verlässliche Strukturen schaffen
Stabilisierende Rituale schaffen Verlässlichkeit und Vertrauen. Das können Begrüßungsrituale, festgelegte Gesprächsregeln oder das bewusste Einleiten von Übergängen sein. Ein klarer Rahmen gibt Sicherheit und verringert Stress.
3. Sozial-emotionales Lernen – Beziehung statt Belehrung
Gerade Kinder mit traumatischen Erfahrungen haben nie gelernt, sich in Beziehungen sicher zu fühlen. Sie brauchen Co-Regulation, um sich selbst besser zu verstehen.
Im Unterricht bedeutet das: Nicht gleich zu reagieren, sondern innezuhalten, die Reaktion bewusst zu gestalten und den Kindern Raum zu geben, sich zu sortieren.
Wenn du diese Punkte so liest merkst du vielleicht, was dir dazu einfällt. Welche Situation gab es zuletzt, in der du auf originelles Verhalten mit Standardantworten reagiert hast, statt dir und deinen Schülern ganz kurz Platz zu schaffen für eine neue Verbindung? Vielleicht merkst du aber auch: Hey -solche Konzepte lassen sich in Mini-Schritten umsetzen – mitten im Unterricht. Sie entstehen aus einzelnen Verhaltensänderungen. Sie wachsen mir dir.
Wer andere sichern will, muss selbst sicher stehen
Schule fordert viel – manchmal zu viel.
Du als Lehrkraft bist Planer, Mediator, Führungspersönlichkeit und oft auch die Erste, die die Not sieht. Du bist für alles verantwortlich, fühlst dich wenig wertgeschätzt und schnell unverstanden. Wo wir wieder bei der Sprache sind – beim Verstehen und beim Verständnis. Aber wer selbst nicht sicher steht, wer sich und sein Verhalten nicht ver – steht, kann keine Sicherheit vermitteln.
Es geht nicht darum, perfekt und unerschütterlich zu sein. Es geht darum, sich selbst zu kennen und die eigenen Stressmuster zu reflektieren.
- Achtsamkeit beginnt bei dir – mit einem bewussten Atemzug.
- Stabilität wächst in Beziehung – nicht im perfekten Plan.
- Sozial-emotionales Lernen braucht keine Extrastunde – nur echte Präsenz.
Du musst nicht alles ändern. Nur anfangen, anders hinzuschauen. Dann lernt dein Körper anders zu sprechen. Es geht nicht um noch eine Methode, sondern um eine neue Haltung.
Wenn du selbst innerlich stabil bist, strahlst du das auch nach außen aus. Und diese Ausstrahlung hat direkte Auswirkungen auf deine Schüler:innen.
Sprich traumasensiblisch! – Es ist eine Frage deiner Haltung
Traumasensible Pädagogik bedeutet nicht, dass wir nie Fehler machen. Es bedeutet, dass wir den Mut haben, uns immer wieder neu auszurichten. Kinder zeigen uns durch ihr Verhalten, was sie brauchen – auch wenn es manchmal unbequem ist, genau hinzuschauen. Auch wenn es uns fordert, diese neue Körpersprache zu lernen.
Wenn wir erkennen, dass Verhaltensauffälligkeiten oft Hilferufe sind, können wir anders reagieren. Dann wird Schule zu einem Ort, an dem nicht nur Wissen vermittelt, sondern Menschlichkeit gelebt wird.
Traumasensibilität beginnt bei uns selbst. Wenn wir sicher stehen, geben wir unseren Schüler:innen die Freiheit, sich zu entwickeln – und die Chance, in einer sicheren Umgebung wachsen zu können.
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